Rother Predigtreihe 2003 – Frieden und der Gerechtigkeit in unserem Land

von Gerhard Wendler


Diese Predigt ist Teil der Predigtreihe 2003 der Evangelischen Kirchengemeinden Roth und Pfaffenhofen. Sie wurde in Bernlohe (10.08.2003), Roth (17.08.2003) und Pfaffenhofen (14.09.2003) gehalten.

Predigttext: Sacharja 7, Verse 8 - 10

Des Herrn Wort geschah zu Sacharja, dass der Herr Zebaoth sprach: “Richtet recht und ein jeder erweise seinem Bruder Güte und Barmherzigkeit, und tut nicht Unrecht den Witwen, Waisen, Fremdlingen und Armen.”

Predigt

Der Prophet Sacharja steht mit seinem Wort nicht allein: Eine Fülle von biblischen Worten gehen in die gleiche Richtung, bei den Propheten Jeremia, Amos und Micha, im Evangelium des Matthäus und den Briefen des Neuen Testaments, auch in den Psalmen, diese Grundmelodie findet sich durchgängig: Der Glaube an den einen Gott verlangt Folgen im Zusammenleben der Menschen, er verlangt eine besondere Art des Miteinander Lebens und Füreinander Daseins.

Diese biblische Melodie findet ihre Fortsetzung in unserem Bekenntnis, wenn es in der Augustana heißt, es “wird gelehrt, dass man gute Werke tun muss… zu Gottes Lob,… weil durch den Glauben… wird auch das Herz befähigt, gute Werke zu tun, denn außerhalb Christus ist menschliche Natur viel zu schwach, den Nächsten zu lieben”. Johann Hinrich Wichern greift das 320 Jahre später auf und formuliert “Die Liebe gehört mir wie der Glaube” und noch einmal einhundert Jahre später bekennt unsere Synode, dass die Diakonie eine Lebens- und Wesensäußerung unserer Kirche ist. Das heißt nichts weniger, als wenn wir nicht diakonisch handeln, nicht diakonisch leben, dann halten wir uns selber für tot.

Wie sieht nun lebendiger Glaube im Sinne des Propheten Sacharja aus? Erweist Güte und Barmherzigkeit mahnt er. Die Barmherzigkeit der Menschen ist die Antwort auf Gottes Barmherzigkeit an uns. Wenn Gott an uns so handelt, müssen wir untereinander das auch leben, das ist eine Absage an ewige Rache und Vergeltung, an die Macht des Stärkeren.

Richtet recht und unterlasst Unrecht: Dahinter steht die Erfahrung, dass es unterschiedliche Interessen gibt und dass diese ausgeglichen werden müssen. Dieser Ausgleich kann gelingen, er kann aber auch mißlingen. Unrecht zu unterlassen ist besonders wichtig gegenüber den Schwächeren, eine Reihe von exemplarischen Beispielen greift Sacharja auf:

Unterlasst Unrecht gegen Witwen und Waisen, das waren Menschen ohne den Schutz des Familienoberhaupts, ohne eigene Möglichkeit sich zu wehren, ohne rechtlichen Status. In einer Gesellschaft, die durch den Mann rechtlich bestimmt wird, sind Frauen und Kinder schutz- und rechtlos, wenn dieser stirbt. Witwen und Waisen haben heute eine andere Position, aber es bleibt die biblische Mahnung: sie stehen stellvertretend für die Menschen heute unter uns, die schwach und rechtlos sind und denen die Macht fehlt, ihre Interessen zu formulieren und durchzusetzen.

Die Mahnung, Unrecht zu unterlassen gegen Fremdlinge beruht auf den eigenen Erfahrungen des Volkes Israel in Ägypten. Sie wußten um die Schutzlosigkeit, fremd zu sein heißt verletzlich zu sein, auf Hilfe angewiesen – oder Gefahr zu laufen, unterzugehen. Das ausgeprägte Geschichtsbewußtsein des Volkes Israel bewahrte die Erinnerung an diese Zeiten des eigenen Volkes, es wäre unserem Volk zu wünschen, ähnliche Erinnerungen zu pflegen. Diejenigen unter uns, die als Kinder Flucht und Vertreibung aus dem Osten mitmachen mussten, werden sich noch erinnern, wie es war, wenn man als Flüchtlingskind in den fünfziger Jahren in eine alteingesessene Familie einheiraten wollte, welche Vorurteile zu überwinden waren oder welcher Kampf im Berufsleben zu bestehen war. Diese Erfahrungen sollten wir nicht verlorengehen lassen, sie müssen weiter erzählt werden, damit sie uns Mahnung bleiben, an die unter uns zu denken, die jetzt fremd sind und ihnen Güte, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zukommen zu lassen.

Der besondere Schutz vor Unrecht, der Armen zukommen soll, erinnert daran, dass jeder Mensch eine Reihe von Grundbedürfnissen hat, die er befriedigen muss, ohne die er nicht leben kann. Diese existenziellen Notwendigkeiten schützt Gott, wenn es zum Beispiel im 2. Mosebuch heißt, ein Mantel als Pfand muss am Abend dem Armen zurückgegeben werden, “denn sein Mantel ist seine einzige Decke für seinen Leib. Worin soll er sonst schlafen?” (2. Mose 22,25). Der Lutherische Weltbund hat das bei seiner Tagung vor wenigen Wochen in Winnipeg aufgegriffen, als er die Aufgabe formulierte, Christen müssten die Lobby der Armen sein.

Es lässt sich eine erste Zwischenbilanz ziehen: Gerechtigkeit und innerer Friede entstehen nur, wenn Güte und Barmherzigkeit walten. Dabei geht es nicht nur um menschliches Miteinander: Wenn diese menschlichen Beziehungen gestört sind, ist auch die Beziehung zu Gott gestört. “Was ihr getan habt – oder nicht getan habt – einem der geringsten meiner Brüder, das habt ihr mir – oder mir eben nicht – getan” wird später Jesus formulieren.

Wie das nun in unserer Zeit in unserem Land umsetzen? Ist es überhaupt Aufgabe von Kirche und Predigt, sich auf ein solches Thema einzulassen? Ist nicht Thema der Kirche, das Heil in Gott, das Hoffen aufs Jenseits? Ist nicht politisch Lied ein garstig Lied? Ich widerspreche dem und mache mir zu eigen, was Theodor Schober geschrieben hat: “Wie einst Petrus vor dem Hohen Rat so sollte die Kirche vor den Mächtigen dieser Welt den Mund auftun, wenn es darum geht, Unheil von den Menschen und Staaten zu wenden und ihre Verantwortung wahrzunehmen, ganz gleich ob es allen Mitgliedern dieser Kirche gefällt. Die Denkschriften der EKD sind dafür ein gutes Beispiel. … Aber auch hier sind nicht nur die Kirchenleitungen gefragt. Jeder einzelne Christ ist in diesen politischen Auftrag der Kirche mit eingeschlossen. … Wer der Kirche den politischen Auftrag abspricht und ihr … nur die Sorge um das Jenseits freigeben möchte, hat das Evangelium und die Erfahrung der Reformatoren gegen sich. Freilich … auch im politischen Kampf, wo er notwendig ist, muss unser Beitrag Bekenntnis zu Jesus Christus bleiben!”[1]
In diesem Sinn spricht Martin Luther auch von der politischen Verantwortung als dem “Beruf” aller Bürger, und die waren für ihn identisch mit getauften Christen.

Aus der göttlichen Aufgabe, Güte, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu leben, folgt der konkrete Auftrag, bei den staatlichen Regelungen für Schwache und Rechtlose hinzuschauen, ob sie unserem Maßstab genügen. Dabei ist es nicht Aufgabe von Kirche und Predigt ein eigenes politisches Programm aufzustellen, wohl aber politische Programme daraufhin zu befragen, wie sie sich mit dem Gebot Gottes vertragen.[2]

Unter diesem Vorzeichen will ich konkret zwei Bereiche unseres Landes ansprechen, darüber nachdenken und an diesem Maßstab prüfen: den Umgang mit Kranken und den Umgang mit Arbeitslosen.

Kranke und Pflegebedürftige sind in besonderer Weise schutzlos. Wir können dabei dankbar auf eine imposante Leistung von 120 Jahren Politik zurückschauen, die fast allen Bürgern einen Versicherungsschutz gebracht hat, der die wesentlichen Kosten von Krankheit übernimmt, der Maßnahmen zur Linderung und Besserung, zur Vorbeugung und Behandlung anbietet, die geschichtlich – allen Kürzungen und Deckelungen zum Trotz – einen Höchststand darstellt. Der medizinische Fortschritt in dieser Zeit war enorm, weil durch die solidarische Versicherung mehr Menschen als früher sich eine ärztliche Behandlung leisten konnten. Abzulesen ist dies an der gestiegenen Lebenserwartung und an der Lebensqualität vieler Menschen nach Krankheiten, Operationen oder Unfällen. Nicht zuletzt ist das gehobene fachliche Niveau von Ärzten, Apothekern und Pflegekräften ohne diese Krankenversicherung nicht denkbar.

Seit einigen Jahren wird aber Krankheit und Pflegebedürftigkeit praktisch nur noch unter dem Gesichtspunkt der Kosten diskutiert. Die Senkung der sogenannten Lohnnebenkosten hat eine Priorität erreicht, die vieles andere ebenso Wichtiges in diesem Bereich überdeckt, und in der öffentlichen Wahrnehmung nicht oder nicht ausreichend zu Wort kommen lässt. Es wäre ein kritischer Blick auf manche speziellen medizinischen Leistungen notwendig, etwa der Frage der Intensivmedizin oder der schlichten Frage, warum es immer noch kein wirksames Medikament gibt, das Malaria heilt, obwohl daran immer noch weltweit eine große Zahl Menschen sterben müssen, wohl aber Präparat namens “Viagra”, das sich eines nun wirklich nicht lebensgefährlichen Problems annimmt. Dafür standen Forschungsgelder zur Verfügung, für Malariaforschung aber nicht. Andere Defizite sind zu bemerken, wenn man die Etats vergleicht, mit denen die Krankenkassen für eine gesunde, vorbeugende Lebensweise werben können und daneben das Geld stellt, das Brauereien und Zigarettenkonzerne für Werbung ausgeben. Auch über die Qualität von Schmerzbehandlung und Sterbebegleitung in hochtechnisierten Krankenhäusern wäre zu reden, wenn absehbar ist, dass die medizinische Kunst im konkreten Einzelfall am Ende ist und es nur noch darum gehen kann, das Sterben zuzulassen und zu begleiten.

Der Maßstab Güte, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit beim Umgang mit Kranken fordert also etwas anderes als das Starren auf die Höhe des Krankenkassenbeitrags, eine öffentliche Diskussion, die sich darauf beschränkt, verarmt und verengt.

Güte, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit angelegt auf unsere Organisation des medizinischen Betriebs heißt nach meiner Auffassung: es gibt nicht Kranke und Extrakranke und es muss deshalb jeder Anschein vermieden werden, dass wer krank ist, aber es sich nicht leisten kann, nicht so gut behandelt wird wie der Patient im Nebenzimmer, dessen Versicherung das Kommen des Chefarztes extra bezahlt. Die Sozialpolitiker in diesem Land waren einmal stolz darauf, dass der Satz “Weil Du arm bist, musst Du früher sterben” nicht mehr stimmt. Als die Debatten um Kürzungen, Zuzahlungen und Rationierungen angefangen haben, hat man davor gewarnt, dieser Satz könnte wieder wahr werden. Er ist wahr geworden: Arme sterben im Durchschnitt sieben Jahre früher als Reiche, im Vergleich zu besonders Wohlhabenden sogar 12 Jahre früher. Nicht irgendwo im afrikanischen Busch, sondern bei uns in Deutschland im Jahr 2003. dass eine solche Meldung zur gleichen Zeit erscheint, wie die Berichte über die nächtelangen Einigungsgespräche zwischen Regierung und Oppositionslager macht nachdenklich, dass sie praktisch nicht wahrgenommen wird und nur in abgelegenen Artikel überhaupt erwähnt wird sagt etwas über den Zustand unserer Medien.[3]

Weil Krankheit Pflegebedürftigkeit und Behinderung jeden treffen können, muss auch jeder nach seinen Kräften dazu beitragen, die Kosten hierfür aufzubringen. Wenn sich das Einkommen eines Volkes zunehmend nicht mehr nur aus Lohn und Gehalt, sondern auch aus Zinseinnahmen und Mieterträgen speist (immerhin lebt eine Generation reicher Erben unter uns, die von den 58 Jahren Frieden und dem Ergebnis das ihre Eltern in diesen Jahren erarbeitet haben, kräftig zehren kann), wenn die Formen der Arbeit sich ändern und nicht mehr nur der normale Arbeitsvertrag das Maß der Dinge ist, sondern eine Vielzahl von flexiblen Bedingungen, von Selbständigkeit, Scheinselbständigkeit, Projektarbeiten und Arbeiten auf Provision, kurzum wenn sich die Rahmenbedingungen von Arbeit und Einkommen ändern, muss sich auch der Weg ändern, wie die Kosten für Krankheit aufgebracht werden, wer dazuzahlen muss und nach welchem Maß das bemessen werden muss. Es sind nicht nur die Krankheitskosten, die zu hoch sind, es ist auch die Rechenbasis, die zu schmal ist, wenn nur die Arbeiter und Angestellte vernünftig in die Krankenkasse einzahlen und deren Einnahmen existenziell von der Zahl der “abhängig Beschäftigten” abhängt. Eine andere Berechnung der Beiträge und eine breitere Basis des Personenkreises, der dazu gezählt wird, wäre unter dem Maß von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit an der Zeit; dass die aktuellen Reformpapiere sich da nicht hingetraut haben, ist ein trauriges Kapitel.

Auch ist festzustellen, dass das Durcheinander verschiedener Regelungen zu Missbrauch einlädt und Leerlauf stellenweise geradezu erzwingt. Doppeluntersuchungen sind ebenso überflüssig wie nötig, wenn der Informationsfluß nicht gewährleistet ist, andererseits laden manche Situationen zu Abrechnungsbetrag geradezu ein. Gerechtigkeit heißt hier, eine bessere Organisation und Zusammenarbeit zu finden.

Zu den Kosten der Krankheit gehören auch die Kosten, die der ganze Betrieb verursacht. Ob dieses Land mehrere Hundert Krankenkassen und dazu noch eine große Anzahl Krankenversicherungen braucht, wenn es doch mit einem Arbeitsamt und einer Handvoll Rentenversicherungen auskommt, kann man durchaus kritisch fragen, erst recht wenn harte Einsparungen und Rationierungen zu Lasten Kranker und Pflegebedürftiger beschlossen werden. Es sei nur daran erinnert, dass die Leistungen der Pflegekasse seit dem 1. April 1995 auf dem gleichen Niveau geblieben ist. Wäre es nicht gerechter, es gäbe einige kleine Krankenkassen nicht mehr und die größeren – fusionierten – Kassen steckten den ersparten Betrag in eine Anhebung des häuslichen Pflegegelds für Angehörige?

Gerechtigkeit bedeutet den Ausgleich unterschiedlicher Interessen, “richtet recht” mahnt dazu, auf diesen Ausgleich zu achten. Was derzeit an Lösungen präsentiert wird zeigt deutlich, dass nicht ein möglichst gerechter Ausgleich der Interessen – hier die Beitragszahler, da die Kranken, dann diejenigen deren Beruf und Einkommen es ist, für Kranke zu sorgen – im Zentrum der Überlegungen steht, sondern dass sich die gut organisierten Teilinteressen durchgesetzt haben und die nicht so gut organisierten sind hinten runtergefallen.

Hinten runterzufallen drohen auch die Arbeitslosen. Wir dürfen uns getrost an die Zahl von 5 Millionen gemeldeten Arbeitssuchenden im kommenden Winter gewöhnen, es scheint ein Naturgesetz zu sein, dass selbst ein wirtschaftlicher Aufschwung die Zahl der Arbeitslosen nicht nennenswert sinken lässt. Längst sind es auch junge, gut qualifizierte, arbeitswillige und -fähige Menschen, deren Arbeitskraft schlicht überflüssig zu sein scheint. Dass es in dieser Situation den angeschlagenen, behinderten oder irgendwie gehandicapten Menschen erst recht schlecht geht, ist ebenso offensichtlich.

Alter ist dabei ein besonderes Problem, genauer gesagt, das, was der Arbeitsmarkt unter Alter versteht. Ein Realschüler, der nach Mittlerer Reife, Lehre und Bundeswehr zu arbeiten beginnt, ist etwa 20 Jahre alt, er hat “normalerweise” 45 Arbeitsjahre vor sich, nach einem Studium sind es immer noch rund 40 Jahre bis zum üblichen Rentenalter. Die Stellenanzeigen – ich habe eine ganze Wochenendausgabe der Zeitung darauf hin geprüft – scheinen aber nur die Hälfte des Arbeitslebens im Blick zu haben, sonst dürften Altersgrenzen bis 30, 35, oder 45, wenn es hoch kommt, bis 50 nicht der Normalfall sein. Eine einzige Annonce schreibt “gerne auch älter” als der gewünschte Mitarbeiter beschrieben wird. Dass eine Studentenkneipe keine 60 jährige Bedienung sucht, versteht man ja noch, aber das ist doch nicht der Normalfall von Stellenanzeigen!

Die ökumenische Denkschrift “Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit” von 1997[4] schreibt vom Menschenrecht auf Arbeit und dass dieses auch für die nicht so fitten gelten muss. Wie weit sind wir von diesem Maßstab entfernt!

Wir müssen uns neu fragen: Was heißt Güte, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit im Blick auf unser Arbeitsleben? Im Blick auf die Verteilung zwischen den Generationen, aber im Blick auf die Verteilung im Land – müssen immer die Menschen der Arbeit folgen, gibt es nicht auch Möglichkeiten die Arbeit zu den Menschen zu bringen und damit das Auseinanderreißen von Familien und die irrsinnigen täglichen Pendler-Staus zu vermeiden? Das hat auch einen weiteren Aspekt: Wenn es billiger ist, in China Hemden nähen zu lassen und diese dann mit dem Flugzeug nach Frankfurt und mit dem Lkw nach Franken zu bringen, während hier die Fabrikhallen verrotten und die Menschen arbeitslos sind, dann ist es nicht einseitig nur die Frage “wie teuer ist Arbeit bei uns?” (und wie hoch sind die berüchtigten Lohnnebenkosten), dann stellt sich auch die Frage, wie billig sind andere Faktoren – Flugbenzin, Gebühren für die Flugplätze, Schadensersatz für die Menschen, die in den Einflugschneisen und an den Autobahnen wohnen, Maut für LKW, Einfuhrzölle und was sonst noch an Kosten in den Preisen steckt, die dann im Laden verlangt werden. Dazu müssen wir den Blick über die Lohntabellen hinaus werfen und das gesamte Umfeld betrachten.

Es muss mit bedacht werden, wenn die Aktienkurse steigen, weil die Personalkosten sinken, dass diese Senkung erkauft wird mit einer Belastung der Arbeitslosenversicherung, mit Frühverrentung und damit steigenden Rentenbeiträgen, die eben nicht von den Aktionären gezahlt werden, wohl aber von denen, die Beiträge entrichten.

Es muss mit nach der Verantwortung des Managements gefragt werden, wenn in einer Firma 175 Menschen – nicht das Management – innerhalb weniger Monate zusammen 30 000 unbezahlte Überstunden einbringen, um ihren Arbeitsplatz zu sichern und nun erleben müssen, wie die Firma halbiert wird. Wie gerecht ist eine Arbeitsordnung, die die Arbeiter in die Arbeitslosenversicherung entläßt und nach wenigen Monaten auf Sozialhilfeniveau hinunterdrückt, während gleichzeitig Manager nach ihren Fehlentscheidungen über hohe Abfindungen ihre Existenz wohl gepolstert wissen?

Warum klagen dieselben Politiker heute über die hohen Lohnnebenkosten, bedingt durch die Beiträge zur Renten- Kranken- und Arbeitslosenversicherung, die vor 13 Jahren bei der Wiedervereinigung alles daran gesetzt haben, diesen Versicherungen möglichst viele Lasten der Vereinigung aufzulegen und damit ihre Wählerschaft, die eben überwiegend nicht pflichtversichert ist, zu schonen? Warum werden diese Lasten nicht anders verteilt? Die erwähnte Denkschrift – von allen Politikern gelobt – sagt zu diesem Thema: “Solange wesentliche Bevölkerungsgruppen nicht zur Finanzierung der Sozialversicherungssysteme beitragen, ist es fragwürdig, gesamtgesellschaftliche Aufgaben, wie z.B. die Qualifizierung oder Beschäftigung von Arbeitskräften oder die Folgekosten der Vereinigung über Versicherungsbeiträge zu finanzieren.” Warum wird so eine Denkschrift gelobt und dann vergessen?

Ich sage das auch im Blick auf die eigene Kirche. Warum nehmen wir mit unserem kirchlichen Mitarbeiterrecht das nicht auf? Wir leisten uns innerhalb der Kirche ein Arbeitsrecht, das den öffentlichen Dienst nachbaut – Beamte, Angestellte, Arbeiter. Güte, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit erfordern eine breitere Solidarität mit Arbeitslosen, das hat die Denkschrift richtig erkannt. Deshalb träume ich von einer Kirche, die sich ein Arbeitsrecht gibt, in der alle, die von der Kirche ihren Lebensunterhalt bekommen, weil sie ihren Arbeitstag im kirchlichen Dienst verbringen, egal ob Friedhofsarbeiter, Pfarramtssekretärin, Pflegekraft oder Bischof – alle mit ihrem Beitrag zur Arbeitslosenversicherung dazu beitragen, die Kosten für die Arbeitslosen aufzubringen. Das wäre ein deutliches Zeichen für Solidarität und Barmherzigkeit, ein Teilen das konkret wird. Es wäre mehr als die Aktion “1 + 1” die, so gut wie sie ist, doch nur symbolisches Klimpern darstellt. “Ihr seid das Salz der Erde, ihr seid das Licht der Welt” ruft Jesus uns zu. Kirchlicher Einfluß und Macht im direkten Sinn haben sich reduziert, der Einfluß einer Synode oder eines Bischofs auf die Gesetzgebung ist gering, das hat die Geschichte des Buß- und Bettags gezeigt. Aber die Menschen fragen weiterhin nach Orientierung und guten Beispielen. Kurzlebige Rezepte und Showeffekte, die sich im politischen Bereich breit machen, imponieren und blenden, aber nur für kurze Zeit. Langfristig wird deutlich, dass nur bewährte Grundwerte es lohnen, praktiziert zu werden. Was der Prophet uns anbietet, hat sich 2500 Jahre lang bewährt. Ich möchte mich neben ihn stellen, den Arm um seine Schultern legen, ihm ein Glas Wasser geben, dass seine Stimmbänder sich erholen und ihm sagen: Lieber Sacharja, du bist schon so alt, aber du hast immer noch recht.

Amen

Quellen

  1. Theodor Schober “Protestantismus heute” in: “Diakonie” Zeitschrift des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland, Beiheft 3, September 1979 Seite 140 f
  2. siehe hierzu auch “Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie – Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe” Denkschrift, Kirchenamt der EKD Hannover 1985, Gütersloh 3. Auflage 1986 bes. Seite 16, Seite 22 ff
  3. Publik Forum 25.7.2003 Seite 17
  4. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Denkschrift 1997; Kirchenamt der EKD Hannover; bes. Ziff 134, 135, 152 und 188