Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig

von Gerhard Wendler

Dieser Artikel erschien 2012 in der Zeitschrift Menschen.Nah des Diakonischen Werkes Schwabach.


Jahre-, nein jahrzehntelang war die Jahreslosung für mich ein Losung für den Januar. Eine Predigt in den ersten Tagen des Jahres, eine biblische Besinnung beim ersten Treffen eines Kreises im Januar, das war es eigentlich. Höchstens fiel noch mal der Blick darauf, wenn die entsprechende Seite im Losungsbuch beim Aufschlagen sichtbar wurde.

Das hat sich jetzt geändert. Ich sende allen meinen Betreuten zum Geburtstag einen Kartengruß und seit ein paar Jahren nehme ich immer eine Karte, auf der die Jahreslosung in künstlerischer Form gestaltet ist. So nehme ich sie das ganze Jahr über ein paar Mal im Monat in die Hand.

Ich setze sie in Beziehung zu dem Menschen, den dieser Gruß erreicht. In diesem Jahr spricht mich das besonders intensiv an: “Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig”. Paulus erfährt das als Zusage Gottes, als er ihn anfleht, der Pfahl im Fleisch möge von ihm genommen werden.

Schwäche erfahre ich zusammen mit meinen Klienten genug. Da kämpft einer gegen seine Sucht und unterliegt. Er bekommt eine Bewährungsstrafe wegen Beschaffungskriminalität und wir müssen 5 Jahre lang ein Leben unter strengen Regeln gemeinsam organisieren. Wie erfährt er einen solchen Satz im Anblick seiner Schwäche und seiner Tränen über die Sucht, die ihn treibt?

Eine alte Frau lag schon lange unbeweglich im Bett, als ich sie kennenlernte. Seither hat sie das Bett nicht verlassen. Sie erkennt mich nicht und sagt immer “Grüß Gott, Herr Doktor”. Ob sie das richtig hört, wenn ihr die Karte vorgelesen wird, ist mir unklar. Es ist aber auch ein Gruß an diejenigen, die am Geburtstag zu Besuch kommen und diejenigen, die an diesem Tag bei ihr arbeiten. Wir Profis an den Pflegebetten und in den Beratungszimmern lernen ja auch von den Menschen, die uns um Hilfe bitten und sie oft genug sichtbar brauchen. Mich erinnert diese Jahreslosung in dieser Lage vor allem auch an die Würde, die alle Menschen haben und seien sie noch so gebrechlich und hilfsbedürftig.

Hilfsbedürftig ist auch der Mann in der geschlossenen Wohngruppe mit dem Sturzring auf dem Kopf. Er braucht ihn, weil er sich sonst bei einem Anfall verletzen würde und die Tür muss verschlossen sein, weil er sonst sich verlaufen würde: Regeln und Risiken des Straßenverkehrs kennt er nicht. Aber wenn ich ihn besuche, lächelt er ganz vorsichtig. Wir kennen uns erst wenige Monate, seitdem sein Vater verstorben ist. Trotzdem hat er schon gelernt, dass der Mann, der da ab und zu kommt, etwas Süßes mitbringt. Darüber freut er sich und schielt schon immer nach meiner Jackentasche. Von ihm geht eine Freude an den kleinen Dingen aus, die ich meist übersehe, weil sie mir zu unscheinbar sind. Aber ich lerne es von ihm und da merke ich die tiefe Wahrheit dieser Erfahrung, die Paulus übermittelt hat.