Homosexualität in Bibel und Gemeinde

Gedanken zu einem emotionsgeladenen Thema von Gerhard Wendler


Dieses Papier wurde auch im Korrespondenzblatt des Pfarrvereins der evangelisch-luterischen Kirche in Bayern in der Ausgabe 10/2003, Seite 147ff. veröffentlicht.

  1. Warum dieses Papier?

    Angestoßen von verschiedenen Synodenbeschlüssen und dem aus evangelikalen Kreisen geäußertem Widerstand[1] formuliere ich Gedanken, die sich an folgendem Maßstab orientieren:

    • der Treue zu Schrift und Bekenntnis, zu der ich mich als Prädikant verpflichtet habe
    • den Ergebnissen exegetischer Arbeit, die Ausfluß des uns von Gott gegebenen Verstands sind
    • den sozialwissenschaftlichen Diskussionen, auch diese Ausfluß des uns von Gott gegebenen Verstands
    • der Liebe, die in allen Dingen herrschen soll

    Dabei beschränke ich mich auf die Betrachtung der Beziehungen, die eingebettet sind in eine umfassende Partnerschaft und auf Bestand und Treue angelegt sind. Promiskuität, isolierte sexuelle Beziehungen und Prostitution ist nicht das Thema hier.

  2. Homosexualität in der Bibel

    Homosexualität ist ein biblisches Randthema, nur wenige Stellen äußern sich dazu explizit:

    • 3. Mose 18,22: “Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Greuel.”
    • 3. Mose 20, 13: Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so haben sie getan, was ein Greuel ist, und sollen beide des Todes sterben; Blutschuld lastet auf ihnen.
    • Römer 1, 26f: Darum hat sie Gott dahingegeben in schändliche Leidenschaften; denn ihre Frauen haben den natürlichen Verkehr vertauscht mit dem widernatürlichen; desgleichen haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen und sind in Begierde zueinander entbrannt und haben Mann mit Mann Schande getrieben und den Lohn ihrer Verirrung, wie es ja sein mußte, an sich selbst empfangen.

    Die Stelle im Römerbrief ist soweit ersichtlich die einzige Stelle, bei der weibliche Homosexualität in den Blick kommt.

  3. Wie sind diese Bibelstellen zu interpretieren?

    Es ist nicht zu übersehen, dass Sexualität als Voraussetzung des menschlichen Weiter- und Überlebens auf die Zweiheit der Geschlechter angelegt ist, bei Menschen wie im Tier- und im Pflanzenreich auch. Ohne Heterosexualität stirbt die Menschheit nach einer Generation aus, das kann nicht gemeint sein. Die Schöpfungsordnung ist auf heterosexuelle Lebensweise angelegt und darauf angewiesen. Homosexualität verweigert die Weitergabe des Lebens und wird damit diesem Anspruch nicht gerecht. Wörtliche Interpretation der Bibelzitate legt nahe, diese Äußerungen 1:1 auf die Gegenwart zu übertragen. Meine Skepsis dagegen hat mehrere Gründe:

    1. Der Zusammenhang biblischer Regeln zur Ehe und zur Sexualität allgemein (Homosexualität ist ein Spezialfall davon und nicht isoliert zu sehen) mit den sonstigen Bedingungen des Lebens ist zu berücksichtigen und wird auch bei anderen Gelegenheiten berücksichtigt:
      • Kinderlosigkeit eines Ehepaares wird mehr nicht dadurch behoben, dass der Mann die Hausangestellte der Frau schwängert und das Kind, auf dem Schoß der rechtmäßigen Ehefrau geboren, dann als seines und seiner Ehefrau anerkannt wird (Abraham und Hagar, 1. Mo 16)
      • Kinderlosigkeit einer Witwe wird nicht dadurch behoben, dass der Bruder des verstorbenen Mannes die Witwe schwängert und das Kind dann als Kind des verstorbenen Bruders gilt, in seine Rechte und Nachfolge eintritt (Sünde des Onan, 1. Mo 38)
      • Biblisch mehrfach überliefert ist die Mehrehe, z. B. auch bei König David. Das macht deutlich, dass das alttestamentliche Leitbild von Ehe und Sexualität anders ist als heute: nicht die individuelle Liebesbeziehung zweier nicht austauschbarer Menschen steht im Zentrum, sondern die Notwendigkeit, das Überleben der Sippe zu sichern. Dies geschieht durch eine hohe Kinderzahl und die Einbindung der Sippen in benachbarte Familien, die sich dann gegenseitig wieder stützen, Handel vermitteln, in Notlagen aushelfen etc. Dieses über die Familie hinausreichende Band wird durch Heirat gebildet und durch die Kinder weitergegeben (auch noch im 2. Jahrtausend nach Christus: tu felix Austria – Heirate!).
    2. Zentrales biblisches Motiv von Familie, Ehe und Kinder bekommen war das Überleben des Volkes Israel, individuelle Glücksansprüche galten nicht, wenn sie denn überhaupt formuliert wurden. Im Hintergrund steht die Abrahamsverheißung, dass ein großes Volk aus ihm werden soll. Leicht erkennbar, dass alles, was dieses Ziel stärkt, gut ist und alles, was dieses Ziel schwächt, schlecht ist. Daher wird auch das Thema “ungewollt kinderlos”, das bis ins Neue Testament hinein bemerkbar wird[2], als großes Drama verständlich und erklärbar.
    3. Nicht zu übersehen sind außerdem die damaligen zeitgenössischen Einflüsse (die biblisch abgelehnt werden) von praktizierter Homosexualität in heidnischen Kulten, in Verbindung mit Tempelprostitution und im griechischen Umfeld mit ausbeuterischen Beziehungen zwischen Erziehern und Knaben.

    Somit komme ich zu einem Zwischenergebnis:
    Es zeigt sich, dass sexuelle Regeln – auch unter heterosexuellen Personen – Rahmenbedingungen haben, die vom jeweiligen Umfeld geprägt und von den Lebensbedingungen beeinflusst werden:

    An erster Stelle ist die Tatsache zu nennen, dass Kinder klar zugeordnet werden müssen, weil an der legitimen (und nur an der legitimen) Nachkommenschaft Rechte über Besitz und Macht hängen, die klar und für die Öffentlichkeit einsehbar sein müssen. Eine Frau weiß immer, dass ein Kind von ihr ist, ein Mann weiß es nie. Deshalb gibt es Regeln über die Vaterschaft, die nicht nur das Recht auf Vaterschaft, sondern auch eine Verpflichtung zur Anerkennung durch den Vater einschließen: Ein Kind von einer Ehefrau während der Ehe geboren ist das Kind des Mannes, ob es ihm gefällt oder nicht. Nur wenn er gute Gründe gegen diese Annahme hat, kann er gegen die Rechte des Kindes einschreiten. (Die neuzeitlichen Möglichkeiten, eine Vaterschaft naturwissenschaftlich zu beweisen, zählen hier nicht). Auch die Regeln über voreheliche und das Verbot außerehelicher Sexualität sind in diesem Zusammenhang zu sehen.

    An zweiter Stelle dürfte eine ganz normale patriarchalische Haltung stehen: Die Frau als Besitz des Mannes hat keinen eigenen Anspruch auf Sexualität. Gerade die alttestamentlichen Sexualregeln strotzen von einseitigen Bestimmungen, die die Frau als Objekt des Mannes erkennen lassen (wurden Hagar oder die Witwe von Onans Bruder gefragt, ob sie Verkehr mit diesen Männern möchten?). Die Inbesitznahme des Harems von David durch seinen rebellischen Sohn Abschalom[3] zeigt, wer das Sagen hat: der Mann, im Zweifel der Stärkere und Mächtigere.

    Gegen eine wörtliche Interpretation spricht noch ein anderer Zusammenhang: Andere Stellen nehmen wir auch nicht wörtlich. Beispiel: Matthäus 5, 29: Wenn aber dein rechtes Auge dir Anlaß zur Sünde gibt, so reiß es aus und wirf es von dir! (Das schreibt ein Brillenträger, der viel Ärger mit seinen schwachen Augen hat.)

    “Menschliche Sexualität … gründet im göttlichen Schöpfungswirken und ist wesenhafter Bestandteil des Menschseins.”[4] Diese grundsätzliche Bejahung von Sexualität (zu der die westliche Kultur lange gebraucht hat und die Kirchen noch länger) als Faktor unabhängig von Fortpflanzung und Existenzsicherung ermöglicht und erzwingt die Beurteilung sexuellen Verhaltens unabhängig von den Zeitgeistnormen alttestamentlicher Umwelt.

    Es stellt sich darüberhinaus die Frage, welche weiteren Faktoren zu berücksichtigen sind.

  4. Nichtbiblische Quellen der Erkenntnis – Ergebnisse humanwissenschaftlicher Forschung

    So, wie wir nicht mehr verlangen “Sonne stehe still zu Gideon”[5], können und müssen wir auch das berücksichtigen, was menschlicher Verstand zu Situationen und Verhaltensweisen erforscht hat, die biblischen Zeiten sich nicht oder anders erschlossen haben.

    Homosexualität ist gut erforscht[6]. Jenseits von Vorurteilen und Ängsten zeigt die Forschung, dass es eine Möglichkeit menschlicher Verhaltensdisposition ist, die es sowohl in Reinform als auch in Mischformen unterschiedlichen Grades und auch in biographisch begrenzten Phasen gibt. Besonders die Homosexualität im Tierreich zeigt, dass die natürlichen Dispositionen eine Variationsbreite haben, die solange möglich bleibt als damit das Bestehen der Art nicht gefährdet wird. Berichte homosexuell lebender Menschen zeigen, dass sie keine Entscheidungsmöglichkeit erlebt haben, zu einen oder anderen Lebensweise zu gelangen, wie man sich für einen Ortswechsel oder Studiengang, für einen konkreten Partner entscheidet oder nicht entscheidet. Oft ist die Erkenntnis, homosexuell zu fühlen mit großen inneren Kämpfen belastet und führt zu langen Konflikten und Krisen einschließlich der Suizidgefahr, bis Sicherheit über die Orientierung und Selbstbewußtsein, sich zu ihr zu bekennen, erreicht sind. Auch kann als gesichert gelten, dass es eine Verführung zu homosexueller Lebensweise eines heterosexuell empfindenden Menschen so nicht gibt. Homosexuelle sind daher weder als Opfer noch als Patienten anzusehen und haben daher Anspruch auf entsprechende Einschätzung.

    Homosexualität stellt sich somit als menschliche Verhaltensvariation dar, die es über Zeiten, Länder und Kulturen hinaus immer gegeben hat und die der Breite menschlicher Existenzmöglichkeiten in anderen, nichtsexuellen Bereichen durchaus entspricht (von der Musikalität bis zur Haarfarbe und Körperform).

  5. Wie sind homosexuelle Beziehungen zu beurteilen?

    Wenn Sexualität als Grundfunktion des Lebens anerkannt wird , wenn die Wahlmöglichkeit des Verhaltens fehlt und wenn Abweichungen von der Natur selbst toleriert werden, weil sie keine Gefahr für den Bestand der Art darstellen, dann kann Homosexualität allein kein irgendwie diskriminierendes Kriterium für eine Beurteilung sein. Partnerschaften sind daher danach zu beurteilen, wie weit sie den sonstigen Geboten gerecht werden: sind sie auf Dauer und Verbindlichkeit angelegt, umfassen sie alle Lebensbereiche, sind sie in eine emotionale Grundhaltung eingebettet etc. Eine so gelebte homosexuelle Beziehung kann nicht verurteilt werden, gleichzeitig aber eine heterosexuelle Beziehung nur weil sie heterosexuell ist, gelobt werden, obwohl in ihr Gewalt, Untreue, Ausbeutung etc. vorkommen. Hier bin ich sicher geprägt von meinen beruflichen Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Menschen, die ausgebeutet, sexuell mißbraucht und gedemütigt wurden (auch in kirchlich geschlossenen Ehen)[7].

  6. Wie soll Kirche mit homosexuellen Beziehungen umgehen?

    Eine kleine Gruppe von Menschen lebt homosexuell, ein Teil davon in stabilen Beziehungen, einer Teil davon lebt als Christ, ein Teil hiervon wiederum begehrt den Segen für die Beziehung, was unter dem Titel “Homo-Ehe” diskutiert wird.

    Rechtliche Sicherheit im staatlichen Bereich, wie sie wohl Anlass zur innerkirchlichen Debatte unserer Tage sind, sind nicht kirchliche Sorge. Ihr Fehlen oder Vorhandensein kann auch nicht kirchliche Regeln ersetzen oder nur beeinflussen, weil die Fragen gegenseitiger Rechte und Pflichten im staatlichen Bereich andere sind als die hier kirchlich diskutierten.

    Wenn die Qualität einer Beziehung für die ethische Beurteilung wichtiger ist als die heterosexuelle Ausrichtung, spricht nichts gegen eine Gleichbehandlung von hetero- und homosexuellen Beziehungen – außer der Tatsache, dass damit Leben nicht weitergegeben wird. An diesem Punkt unterscheiden sich beide Arten von Beziehungen und deshalb muß Kirche hier auch einen Unterschied machen.

    In diesem Zusammenhang verbietet sich also ein Reden von einer Ehe oder einer Trauung. Das muß Folgen für das agendarische Handeln haben. Eine Agende, bei der der Anschein erweckt wird, es handle sich um einen Sonderfall von Trauung, bei der halt nur die Partner aus dem gleichen Geschlecht kommen, verbietet sich.

    Es stellt sich aber die Frage, wie mit dem Wunsch der (vierfach kleinen) Gruppe umgegangen wird, für ihre Beziehung gesegnet zu werden. Das führt zunächst zurück zum Eheverständnis und dann zur Frage:

  7. Was geschieht beim Segen an Lebensübergängen?

    Die unterschiedliche Geschichte der Ehe, auch in der Bibel, lehrt und mahnt uns, Formen und Riten in ihrer Zeitbedingtheit zu erkennen und zu relativieren. So wie sich das Eheverständnis seit David geändert hat, kann es sich wieder ändern: Von der Machtposition des Mannes und seinen sexuellen Interessen und dynastischen Vorstellungen hin zu einer Versorgungsinstitution und dann weiter zu einer individuellen auf Liebe gegründeten Beziehung (die dann aber auch unter diesem Anspruch zu ächzen hat – woher sonst kommen die Scheidungszahlen?). Wie wird das Eheverständnis in 100 Jahren aussehen?

    Nach evangelischen Verständnis ist die Ehe “die Verbindung der Geschlechter, die dem Willen Gottes entspricht”, die evangelischen Kirchen kennen jedoch “kein allgemeines überzeitlich gültiges Ehebild, an dem jede Ehe zu messen wäre”, die kirchliche Trauung ist ein Akt der Zusage von Gebot, Verheißung und Segen Gottes für die eheliche Gemeinschaft[8].

    Nach lutherischem Selbstverständnis ist die Ehe also ein weltlich Ding. Sakramentale Überhöhungen wie in der katholischen Kirche ersparen wir uns. Selbstkritisch ist zu fragen, wie wir bei der Trauung mit dem Wunsch nach Segen umgehen, wenn das Umfeld weder einen Wunsch nach kirchlicher Ausrichtung des Lebens noch nach dem Segen an einer Lebenspassage ergibt, sondern lediglich den Wunsch nach einer schönen Zeremonie. (wir tun eben nichts, wir feiern die Trauung).

    Was also tun wir, wenn wir bei einer Trauung segnen? Dazu eine kompetente Stimme: “Während die Botschaft des Evangeliums den Menschen irgendwo auf seinem Lebensweg trifft und dann allein das Vorher und das Nachher wichtig ist, so wie es Römer 7 darstellt, hat es das segnende Wirken Gottes mit dem ganzen Lebensbogen des Menschen zu tun, und von ihm her bekommt der diesen Weg begleitende …Segen seinen guten, ja notwendigen Sinn… Wir werden dann wieder ernsthaft damit rechnen können, dass diejenigen, die den Segen der Kirche für … einen neuen Lebensabschnitt begehren, in diesem Begehren die Kirche Jesu Christi meinen, in deren Mittelpunkt die Botschaft vom Kreuz und Auferstehung Jesu Christi steht, wenn der im Namen Christi erteilte Segen wirkliche bis in den Lebensbereich der Familie und deren besondere Ereignisse reicht.”[9]

    Mir erscheint hier der Gedanke des Wirken Gottes auf dem ganzen Lebensbogen als zentral. Wenn Gott einige Menschen (und Tiere) homosexuell geschaffen hat, was gibt uns das Recht, einen Segenswunsch zu verwehren, der ernsthaft und glaubwürdig vorgebracht wird?

    Was für heterosexuelle Beziehungen richtig ist, kann auch für homosexuelle Beziehungen zutreffen. Vielleicht ist die Wahrscheinlichkeit, dass der erbetene Segen ernst gemeint ist, sogar höher als bei einer herkömmlichen Trauung, bei der Fotografieren, Begleitmusik, Reis streuen und Sitzordnung manches mal die Traugespräche mehr bestimmen als Segen, Trauspruch und Liturgie. Wer sich trotz der allgemeinen Vorurteile in sexuellen Dingen gegen die Kirche dem Stress eines solchen Ansinnens aussetzt, muss dafür gute Gründe haben[10].

    In diesem Gedankengang erscheint ein Segnungsgottesdienst nicht nur möglich, sondern auch geboten, wenn die betroffenen Partner dies wünschen.

  8. Überlegungen, was die Kritiker treiben könnte

    Andererseits fällt die massive, emotional geprägte Kritik auf, die von Gegnern einer solchen Segenshandlung geäußert wird. Auch sie ist ernst zu nehmen[11]. Eine Entscheidung, die in der Kirche getroffen und praktiziert werden soll, muß in besonderer Weise konsensfähig sein. Wenn die Ablehnung so extrem ist, dass sie zur Androhung von Abspaltung oder Kirchenaustritt führt, dann muß eine Position gefunden werden, die diese schroffe Ablehnung zwar nicht aufnimmt, aber sie ernstnimmt[12]. Nicht nur homosexuell lebende Menschen haben ein Recht darauf, dass wir die Liebe Christi leben, auch diejenigen, die sie ablehnen, vielleicht weil sie schlecht informiert sind, vielleicht weil ihr Schriftverständnis ihnen keine andere Möglichkeit gibt, vielleicht, weil sie geängstigt sind, vielleicht, weil…

    Um der Schwachen willen[13] tun wir öfter mal was, was wir anders auch tun könnten.

  9. Zusammenfassende Gedanken

    Deshalb ist ein Mittelweg unausweichlich. Er könnte für mich so aussehen:
    • Eine Trauung bleibt heterosexuellen Paaren vorbehalten.
    • Eine Amtshandlung für homosexuelle Paare wird nicht vorgenommen, wegen des öffentlichen Charakters eines solchen Gottesdienstes.
    • Ein Segnungsgottesdienst nach beschlossener Agende ist möglich. Das heißt: keine öffentliche Ankündigung, keine Abkündigung, kein Eintrag in Kirchenbücher, aber auch keine liturgische Beliebigkeit des handelnden Pfarrers oder der Pfarrerin.
    Weiter umfasst diese Haltung:
    • Es muß einen Gewissensschutz geben für Pfarrer und Pfarrerinnen, die eine solche Handlung generell oder im Einzelfall ablehnen; dieser kann sich aber nur auf die eigene Person beziehen, nicht auf den Kirchenraum oder die Kolleginnen und Kollegen in derselben Gemeinde (anders als der frühere Vetoparagraph im Zusammenhang mit der Frauenordination, wo ein Pfarrer die Berufung einer Pfarrerin in die gleiche Gemeinde verhindern konnte)[14].
    • Homosexualität ist kein Merkmal, das als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter disqualifiziert, weder zu ehren- noch zu hauptamtlichen Dienst, auch nicht als Pfarrerin oder Pfarrer.
    • Erzwungenes Outing oder Bloßstellen verbietet sich auch im kleinen Kreis. Wer seine sexuelle Orientierung verbergen will, hat dazu das Recht. Dass umgekehrt seine/ihre sexuelle Orientierung keinen Einfluß auf die Arbeit haben darf, versteht sich von selbst.
    • Diskriminierungen aufgrund sexueller Orientierung sind abzulehnen.

    Zu bedenken, bei allem Engagement in der Diskussion ist aber auch: Homosexualität ist ein biblisches Randthema und muß auch ein ethisches Randthema bleiben. Die ethisch schwerwiegenden Probleme liegen auf ganz anderen Feldern, auch im Bereich familiarer Ethik, im Bereich der öffentlichen Ethik allemal.

    Die Erarbeitung dieser Gedanken hat mich weit herumgeführt. Ich bekenne, dass ich am Ende dieser Formulierungen zu einem anderen Ergebnis gekommen bin als ich am Anfang vermutete.

02.09.2003
Gerhard Wendler

Fußnoten:

  1. z. B. Anzeige der Bekenntnisbewegung Kein anderes Evangelium, DIE ZEIT 30.4.2003 Seite 28; interessanterweise ist mir noch kein Protest begegnet, bei dem Befürworter der Segnung Homosexueller einen Ablehnungsbeschluß kritisiert haben oder gar mit Kirchenaustritt gedroht hätten
  2. Lukas 1, V 7
  3. 2. Sam. 16: 20 f
  4. Leitlinien Entwurf der VELKD 2003, Seite 75
  5. Josua 10, 12
  6. zum folgenden insbes. Publik Form 15/2003 Seite 46 ff
  7. Ich bin seit 1977 als Sozialarbeiter in der Diakonie in verschiedenen Arbeitsfeldern tätig, war während meiner Zeit als Geschäftsführer einer Diakonie- Bezirksstelle unter anderem in der Kirchlichen Allgemeinen Sozialarbeit tätig, war im Vorstand des Evang. Fachverbands für Erziehungs-, Ehe- und Lebensberatung und Vorsitzender des Fachverbands für Familienpflege, habe eine Sozialpädogische Familienhilfe geleitet; seit 6 Jahren arbeite ich als rechtlicher Betreuer, u.a. auch mit jungen Erwachsenen nach sexuellem Mißbrauch durch Eltern oder Stiefeltern.
  8. Konfessionsverschiedene Ehe – eine Verstehens- und Arbeitshilfe; Ökumenereferat der Evang. Luth. Kirche in Bayern in Verbindung mit Ökumenische Kommission der kath. Bistümer in Bayern 1993, Seite 9 ff
  9. Westermann, Der Segen in der Bibel und im Handeln der Kirche, München 1992 Seite 109ff
  10. Ich setze Ernsthaftigkeit voraus, weil die wenigen Fälle, die um der Provokation willen geschehen mögen, kein Maßstab sein können.
  11. Ich vertiefe hier nicht die Frage, warum ausgerechnet bei ethischen Fragen mit einer sexuellen Dimension die Emotionen so extrem hochgehen, wie dies 30 Jahre lang in der Abtreibungsdebatte erlebt wurde. Allein schon die Extrembeispiele aus besonders exponierten Kreisen geben zu denken: da wird ein Abtreibungsgegner zum Mörder an einem Arzt, der Abtreibungen vornimmt – wo ist da der Lebensschutz?
  12. hierzu besonders: Die Einheit wahren – Positionspapier zur Frage der kirchlichen Konsensbildung, Landeskirchenrat München 25. Juni 1992
  13. Rö 14,15
  14. Bei dieser vorgeschlagenen Form wäre nach meiner Einschätzung das ius liturgicum des Kirchenvorstands nicht berührt, weil es keine öffentlichen Gottesdienste sind. Die Einwirkungsmöglichkeit des Kirchenvorstand beschränkt sich dann auf eine entsprechende Frage bei der Pfarrstellenbesetzung. Aber dies ist eine theologische Erwägung, keine Arbeit zum Kirchenrecht.